Moral Compensation Comes Cheaper to Princes
Andreas Platthaus, 29. April 2021
Originally appeared in the Frankfurter Allgemeine Zeitung
Claude de Toulongeon schaffte es noch knapp unter die ersten hundert Ritter vom Goldenen Vlies. Der 1430 von Herzog Philipp dem Guten gegründete Orden war ein politisches Vehikel, mit dem sich der Herrscher des zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich gelegenen und beiden Mächten lehnspflichtigen Burgunds wichtige Alliierte sicherte, vor allem unter dem eigenen Adel.
Dem gehörte auch der jeweilige Baron von Toulongeon und Sennecy an; schon Vater und Onkel von Claude waren Ritter vom Goldenen Vlies gewesen, doch als er selbst 1481 in den Orden aufgenommen wurde, stand Burgund vor dem Abgrund: Herzog Karl der Kühne war vier Jahre zuvor im Krieg gegen das benachbarte Herzogtum Lothringen gefallen, seine Tochter Maria, einziges Kind, heiratete wenig später den habsburgischen Erzherzog Maximilian, um das eigene Land und die ihr ebenfalls gehörende Grafschaft Flandern gegen Frankreichs Zugriff zu schützen. Claude de Toulongeon zählte dabei zu Marias wichtigsten Streitern. Auf Befehl des französischen Königs wurden deshalb seine Güter konfisziert und der Stammsitz der Familie geschleift. Maximilian kompensierte diesen Verlust zwar nicht materiell, aber moralisch durch die Berufung Claudes in den Ritterorden als dessen sechsundneunzigstes Mitglied.
Er hatte zunächst wenig davon. Bis zur nächsten Ordenssitzung dauerte es allerdings kriegs- und krisenbedingt zehn Jahre. Da war Herzogin Maria schon tot und Maximilian deutscher König; das burgundische und flämische Erbe sein wertvollster Besitz. Entsprechend prunkvoll ging es 1491 auf der Ordenssitzung zu, auch wenn nur sieben Mitglieder teilnahmen, doch man kann sich die dabei entfaltete Pracht kaum opulent genug vorstellen. Teil davon waren die bei Gebeten und Gottesdiensten benutzten Stundenbücher der Ritter: Schaustücke mehr ihres Reichtums als ihrer Frömmigkeit, und natürlich hatte auch Claude eines dabei: prächtig ausgemalt von drei verschiedenen Illuminatoren und im damals ungewöhnlichen Folio-Format von fast 27 Zentimeter Höhe der einzelnen Pergamentseiten. Von derartiger Größe gibt es weniger als zehn erhaltene Stundenbücher. Erstmals dokumentiert wurde jenes von Claude 1817 in englischem Besitz; jetzt steht es im schweizerischen Antiquariat Bibermühle bei Heribert Tenschert zum Verkauf.
Dort war es schon einmal, Ende der achtziger Jahre, und damals erst wurde Claude de Toulongeon anhand des enthaltenen Besitzerbildnisses als Auftraggeber identifiziert, nachdem bis dahin einem alten Vermerk im Buch Glauben geschenkt worden war, der es als ehemaliges Eigentum seines Onkels auswies. Tenschert verkaufte es an die private Forschungssammlung Bibliotheca Philosophica Hermetica von Joost Ritman in Amsterdam. Von dort wurde die Schrift zur Deckung finanzieller Engpässe 2002 wieder abgegeben und gelangte über eine englische Sammlung in Privatbesitz nach Deutschland, von wo sie schließlich zu Tenschert zurückkehrte. Da er der weltweit führende Händler illustrierter Bücher ist, laufen besonders bemerkenswerte Exemplare zuverlässig immer wieder bei ihm ein.
War Claudes Stundenbuch 1989 nur ein Kapitel in einem der sorgfältig redigierten Kataloge von Tenschert gewidmet (jeder einzelne ein wissenschaftliches Nachschlagewerk eines Rechts), ist es diesmal Gegenstand einer hundertfünfzigseitigen Monographie geworden – reich bebildert (in Originalgröße) und verfasst von Eberhard König, dem besten deutschsprachigen Kenner der Materie. Er rekonstruiert nicht nur den Kontext der Entstehung des Stundenbuchs im ausgehenden 15. Jahrhundert, sondern stellt vor allem eine Hierarchie der beteiligten Künstler her, deren bemerkenswertester ein noch nicht sicher identifizierter, in flämischer Tradition stehender Meister ist, möglicherweise identisch mit, sicher aber im Umfeld des sogenannten Meisters von Edward IV.
Dieser Künstler schuf im Laufe der Ausmalungskampagne des Buchs neben dem Porträt von Claude als Betendem (der keines Schutzes eines Heiligen bedarf, denn der Starke ist am mächtigsten allein) noch weitere größere Illuminationen, vor allem eine ungewöhnliche Darstellung der „Rast Christi“ auf dem Kalvarienberg: Christus sitzt bereits ausgekleidet auf dem noch auf dem Boden liegenden Kreuz, das von Schergen für die Hinrichtung vorbereitet wird. König gelingt die Rückführung dieses Motivs auf einen Holzschnitt des rheinischen Künstlers Israhel von Meckenem, der um 1480 einen Passionszyklus geschaffen hatte, der mit einem Blatt die Komposition des Stundenbuchs anregte.
So wird im Katalog aufs schönste Politisches mit Ästhetischem verknüpft, und die Bebilderung erlaubt die Überprüfung der Thesen aufs anschaulichste. Dass die beiden spektakulärsten Illuminationen des Buchs auch früheren Besitzern schon die liebsten und dementsprechend angegriffen waren, so dass sie nun restauriert wurden, wird nicht verschwiegen, wenn auch nur von „gemilderten Farbverlusten“ und „Schabspuren und Ausbrüchen“, die „mit größter Schonung beseitigt“ wurden, die Rede ist. Für dieses Juwel der Buchmalerei kurz vor dem Siegeszug gedruckter Stundenbücher werden 1,6 Millionen Euro verlangt. (Katalog 75 Euro.)